Tunguska
Eine transsibirische Theater-Expedition
Was geschah in Tunguska? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwüstete eine gigantische Explosion ein Gebiet in Sibirien, 60 Millionen Bäume umgestürzt und verbrannt auf einem Gebiet von 2000 Quadratkilometern – eine Naturkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes! Handelte es sich um den Einschlag eines Meteoriten, einen vulkanischen Ausbruch oder gar um ein verrücktes Experiment? Die Spuren des Ereignisses, erforscht in etlichen internationalen Expeditionen bis zuletzt im Jahr 2017, entziehen sich bis heute hartnäckig einer stimmigen Erklärung. Wo die Fakten versagen, blühen oder explodieren in einer Art zweiten Katastrophe die Fiktionen. Zwischen Ufoabsturz, einem wandernden schwarzem Loch, Teslaexperiment, schamanischem Feuer und Andrei Tarkowskis Stalker wird das Unbekannte humorvoll, abwegig oder auch tiefsinnig in Szene gesetzt. Am Ende bleibt die Frage: wenn unsere Erkenntnisinstrumente angesichts des natürlichen Tunguska-Ereignisses bereits versagen, wie wollen wir mit einer von uns selbst beschädigten Erde umzugehen lernen?
Ein fünfköpfiges Schauspiel-Team begibt sich auf eine Theater-Expedition. Angekoppelt an eine Basis-Station betreten sie ein Sibirien der Fantasie und kämpfen sich durch den Dschungel der Hypothesen, Narrationen und Figuren. Es entsteht eine Theater-Performance, in der sie schlussendlich selbst in den Weiten Sibiriens zu verschwinden drohen.
Premiere: Fr. 25.11.2022 / Weitere Vorstellungen: Sa. 26.11. / Mi. 30.11. / Fr. 02.12 / Sa. 03.12. / Mi. 07.12. / Fr. 09.12. / Sa. 10.12.2022 / jeweils 20.30 Uhr
Spielort: WUK Theater Quartier https://www.wuk-theater.de/
Schauspiel/Performance: Astrid Kohlhoff, Maria Steurich, Jörg Petzold, Jan Uplegger, David Jeker / Regie. Silvio Beck / Bühne: Silvio Beck und Wieland Krause / Kostüme: Katharina Schirmer / Dramaturgische Beratung und Schreiblabor: Andreas Sauter / Coach Soundlabor: Wieland Krause / Gesangscoach: Michael Hinze / Beratung Produktion: Kristina Patzelt
Das Projekt wird gefördert vom Land Sachsen-Anhalt und der Stadt Halle / Kooperationspartner WUK Theater Quartier
Presse:
Jörg Wunderlich schreibt in der Mitteldeutschen Zeitung vom 29. November 2022:
…bis heute konnte die genaue Ursache der Katastrophe nicht schlüssig geklärt werden. …
114 Jahre danach: Stille im abgedunkelten halleschen WUK-Theater, wo jetzt die Perfomance ,,Tunguska“ auf die Bühne kam. Eben noch hatte ein minutenlanger Sprechchor die Bühne erfüllt: ein fortlaufender Text in rhythmischen Passagen, kollektive Reflexionen über ein mythisch gewordenes Naturereignis.
Doch dann ein dramaturgischer Nullpunkt: Kein Protagonist, kein Antagonist, kein Konflikt für eine Handlung. Fünf Akteure stehen auf der Bühne, zücken ihre Instrumente, um ins unerforschte Offene zu gehen.
,,Tunguska“ in Halle: Indem das künstlerische Risiko dieses Experimentier-Theaters freigelegt wird, begegnen Regisseur Silvio Beck und das Ensemble dem Publikum auf Augenhöhe. Die Botschaft: Wir inszenieren hier keine Mystery-Doku und imitieren keinen apokalyptischen Blockbuster. Wir erklären hier nicht die Welt, sondern sitzen fragend mit euch im selben Boot, machen Theater auch übers Theatermachen. Brecht hätte vielleicht einen Vorhang hereingerollt auf dem stehen könnte: Glotzt nicht so postfaktisch.
Es beginnt eine Reise zunächst auf den Spuren der ersten sowjetischen Expedition zum Katastrophengebiet im Jahr 1927. Dann wird die hölzerne Expeditionshütte zum Schiff durch die Zeit, zum Klanginstrument, zur rotierenden Welt. Raumgreifend dynamisch und vielschichtig assoziativ geht es hinein ins Zentrum heutiger Debatten: Wo genau ist eigentlich der Punkt, an dem berechtigte Hypothesen zu absurden Fiktionen mutieren, bei denen das Wort Narration nur noch von Narr abgeleitet scheint?
Spürbar verwandelt sich der Bühnenraum in eine Platonische Höhle, an deren Wänden die un- deutbaren Schatten flimmern. Müssen wir uns am Ende mit dem Unbegreiflichen arrangieren? Und was hält es für uns bereit? Andrei Tarkowski und Stanley Kubrick lassen grüßen.
Eine Quelle für die neue Produktion des Theater Aggregate“ war der philosophische Disput „Tunguska oder Das Ende der Na- tur“ von Michael Hampe. Zudem flossen Expeditionsberichte und Erzählungen von Augenzeugen der sibirischen Ureinwohner vom Volk der Evenken ein.
Der Bühnentext entstand in einer Schreibwerkstatt mit dem Schweizer Theaterautor Andreas Sauter und wurde mit den Darstellern szenisch weiterentwickelt. Auch in ein Klanglabor hatte sich Silvio Beck im Vorfeld begeben, um dort mit dem Künstler Wieland Krause geeignete Sounds für das Stück zu erzeugen. Diese fügten sich nahtlos mit dem einfachen Bühnenbild zu einem organischen Ganzen. Das Ergebnis ist kurzweilig-frisches Werkstatttheater auf der Höhe der Zeit aber gänzlich ohne Agitprop.